Titel:
Fat Man Walking
Maße:
99 x 130
Künstler / Ort / Datum :
C. Hebell, Berlin 2009
Material Bild / Rahmen:
Spray, Öl auf Leinwand
Beschreibung:
„Das bist du und deine Zukunft“, sagte die kleine Muse, als sie das Bild noch sah. „Eines Tages wirst du dich so vollfressen, dass meine Hand dich nicht mehr halten kann“. Der Maler protestierte entschieden gegen diese Interpretation. Nun aber ist es doch so gekommen. Der Maler leidet nun an einer tödlichen Verfettung und die Muse hat sich ins Nirwana verabschiedet (Bild verschollen).
Melinuse
Bevor alles in tieferem Schweigen versinkt, möchte doch an die verschwundene Muse noch einmal erinnert werden. War sie eine Muse? Gibt es Musen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Als sie mit der Behauptung auftrat, sie könne Bilder auf eine bestimmte Weise zum Sprechen bringen, lachte der Maler. Das sollte er noch bereuen. Er versuchte später, als sie nicht mehr zugänglich war, den Vorgang für sich zu wiederholen. Es gelang ihm nicht. Die Bilder blieben für ihn ohne Sprache, obgleich er sich mühte, alle Details ihrer Methode so genau wie möglich zu reproduzieren.
Sie benutzte für ihre Demonstration das Bild des Malers Sebastiano del Piombo mit dem Titel „Der Tod des Adonis“. Die Entstehungszeit liegt zwischen 1512 und 1515 ist (Öl auf Leinwand, Uffizien). Für ihre Darstellung arbeitete sie mit dem Stufenmodell der Ikonographie des Kunsttheoretikers Erwin Panofsky. Er entwickelte eine Bildbeschreibung, die sich auf drei Ebenen nach und nach erweitert. Sie betraten die Uffizien. Wie üblich war es brechend voll. Stimmengewirr von überall, gestikulierender Massentourismus aus allen Himmelsrichtungen. Kein Fenster war offen, die Luft war nicht besonders. Allerdings störte das Melisune – so hieß sie- keineswegs. Auf der ersten Stufe findet sich bei Panofsky eine neutrale Beschreibung des Bildes. Hier kommen keine Fachbegriffe oder Namen zur Sprache.
„Über den beiden nackten weiblichen Personen in der rechten vorderen Bildmitte, von denen eine dem Betrachter den Rücken zukehrt, während die andere frontal nach rechts außen gedreht auf einen Mann mit einer Flöte schaut,“ fing sie an, „ erhebt sich in gebeugter Stellung etwas erhöht im Bild eine weibliche Person im Greisenalter, die sich mit nach rechts weit ausholender Zeigegeste zu diesem bärtigen Greis wendet, sich aber mit ihrem Oberkörper über eine der in der Bildmitte sitzenden Frauen beugt. In der Mine dieser älteren Person sieht man Trauer oder Panik. Ihre Zeigegeste weist in die umgekehrte Richtung der weiblichen Person, die nach rechts aus dem Bild hinaussieht. Aus dem Fuß des rechten übergeschlagenen Beines der weiblichen Mittelpunkfigur-auch sie ist völlig nackt- fallen Tropfen auf die Erde unter ihr. Im weiteren dunklen Vordergrund des Bildes erscheinen Blumen mit gelblich-rot-weißen Blüten, deren Verbreitung sich in lockerer Form über den Waldboden ausdehnt.
Die weibliche Person in der Bildmitte trägt auf ihrer Stirn eine Verzierung in Weiß, die einem Diadem ähnelt. An ihren rechten Oberschenkel drängt sich ein herbeieilendes geflügeltes Kind, das mit erhobenem Kopf und schmerzlicher Miene zu dieser weiblichen Gestalt aufblickt, während es mit dem Arm in den linken Bildhintergrund weist. Den gesamten Hauptteil des Gemäldes nimmt diese aus vier Personen bestehende Frauengruppe ein, deren physische Bewegungen in verschiedene Richtungen zeigen. Die weibliche Person in der Bildmitte hat das rechte Bein über das linke geschlagen und beugt sich mit nach unten gerichtetem Blick leicht nach vorn. Die beiden in der rechten Mitte sitzenden Frauen wenden sich in körperlich leicht geschraubter Bewegung dem Greis zu, der mit einem Fell bekleidet ist, und auf einer Flöte bläst. Die Höhenposition seines Kopfes am rechten äußeren Bildrand bildet den Abschluss einer ungefähr diagonalen Linie, die von links unten nach rechts oben über die Scheitel der Personen im Vordergrund verläuft. Melisune hatte ihre Worte mit gut hörbarer Stimme vorgetragen. Sie wirkte sehr engagiert. Vielleicht deshalb hatte sich eine Anzahl von Zuhörern um sie und den Maler versammelt. Während sie ihre Darstellung fortsetzte, wuchs die Zahl dieser Zuhörer.
Im Hintergrund wurde jetzt ein Saalwächter aufmerksam, der sich nach und nach zu dem Kreis durcharbeitete. „Dort hinten “, fuhr sie fort, „liegt auf einer Waldlichtung eine männliche Person, deren Kopf nach rückwärts gesunken, und deren linkes Bein in starrer Stellung leicht angewinkelt ist. Das rechte Bein des Mannes ist flach ausgestreckt, sein rechter Arm liegt mit verkrampften Fingern auf dem Boden, während die Linke auf dem Bauch ruht. Das weiße Tuch, mit dem sein Oberkörper verhüllt ist, öffnet sich über der Brust und gibt eine Wunde frei, deren Blut die Bekleidung um die Bauchpartien des Mannes rot färbt. Seinen Unterkörper hüllt ein blauer Stoff ein, der sich in grober Faltung auch um das linke Bein schlingt.
Im ferneren Hintergrund des Bildes jenseits einer Lichtung erkennt man die Silhouette einer Stadt, vor der sich ein Gewässer erstreckt, dessen Ausläufer bis fast an die Lichtung heranreichen, auf der der Mann am Boden liegt. Der in hellem Grau vor dem lichtblauen Himmel stehende Palast der Stadt hat eine reich gegliederte Säulenfassade. Im unteren Teil und links neben ihm erhebt sich aus undeutlichen Häusersilhouetten ein Turm mit einem flachen Dachaufbau“.
Die Zuhörer sahen vom Bild auf das Mädchen und wieder zurück auf das Bild. „Die farbliche Gestaltung der weiblichen Personen im rechten Vordergrund besteht aus einem kühlen gelben Ocker, der auf den stärker beschatteten Körperflächen wie den Armbeugen in dunkles Graubraun übergeht. Die drei weiblichen Personen im Vordergrund bilden mit ihren teilweise ins lichte Orange führenden Gelbtönen einen Kontrast zur dunklen Schattierung des bräunlich erdfarbenen Vordergrundes und des in Braun-und Grautönen gehaltenen Baumbestandes, der sich mit drei kräftigen Stämmen unmittelbar hinter der ganzen Figurengruppe erhebt. Die Gestalten am rechten äußeren Bildrand und der weiblichen Person, die vorübergebeugt auf den Greis mit der Flöte deutet, sind in dunklerem Gelb gehalten, da sie sich etwas weiter im Hintergrund bewegen.
Die drei leuchtenden Personen der Frauengruppe sitzen auf einer Bodenerhebung. Der links im Hintergrund liegende Mann hat eine wächsern-gelbe Haut, die auf dem Oberkörper stellenweise mit schmutzigem Weiß alterniert. Auf der Brust des Liegenden sind rote Farbspuren sichtbar. Mit diesen Farben hat der Mann eine Mittelposition zwischen den Frauengestalten im Vordergrund und dem schwimmenden Grau der Farbe des Palastes der Stadt. Der Azur der Ätherstreifen im weiten Bildhintergrund sorgt für Tiefenwirkung und strahlt zugleich auf die Körper der drei weiblichen Personen vorne aus.“
So ging es weiter. Die Saalwache hatte sich jetzt zu der Gruppe durchgearbeitet. Der Mann verzog das Gesicht und sagte etwas auf Italienisch, wovon der Maler nichts verstand. Seine Italienischkenntnisse waren mäßig, der touristische Lärm erreichte wieder einen Höhepunkt.
Das Mädchen verdrehte die Augen, erwiderte etwas und zeigte auf das Bild, von dem sie sprach. Die Aufsichtsperson sah ebenfalls hinüber, wie es schien, etwas genauer, trat zur Seite und verzog sich zur Überraschung des Malers ohne weitere Umstände. Mesilune wies darauf hin, dass eine noch weit gründlichere vorikonographische Beschreibung der farblichen Vielfalt des Bildes zwischen Licht und Dunkel möglich sei, dass eine solche Prozedur aber den zeitlichen Rahmen überschreiten würde. Sie beschränke sich infolgedessen auf die wesentlichen Elemente.
„Wir kommen jetzt zur zweiten Stufe der ikonographischen Beschreibung. Hier sind konkrete Benennungen des Bildpersonals erforderlich. Finden wir also auf einem Bild von Sebastiano del Piombo, einem relativ schlecht dokumentierten Maler der Renaissance, eine Knabengestalt mit Flügeln, so kann man relativ sicher sein, dass es sich um den Liebesgott Amor handelt, den griechischen Eros. Auf den Bildern tritt er fast immer als geflügelter Jüngling auf, versehen mit Pfeil und Bogen. Die Frau mit dem weißen Diadem auf der Stirn, die leuchtende, ja strahlende weibliche Figur im Mittelpunkt des Bildes, aus deren rechten Fuß die Tropfen auf den Boden fallen, darf man jetzt konstatieren, ist Venus, die Göttin der Schönheit, die Cypris der Mythologie.
Der geflügelte Amor ist ihr Sohn. Er führt normalerweise die Attribute mit sich, die die Venus als Göttin der Liebe ergänzen, Pfeil und Bogen. Sie verkörpern den sinnlichen Eros, die brennende Fackel, die der Knabe auf manchen Bildern auch hält, bedeutet Glut. Auf unserem Bild fehlen diese Dinge. Der bärtige Greis mit der Flöte, der sich rechts am Bildrand in die Frauengruppe drängt, darf nun als der Hirten- und Rauschgott Pan bezeichnet werden. Die weiblichen Begleiterinnen der Venus sind Nymphen. Sie gelten als niedere Gottheiten. In ihrer Funktion sind sie Dienerinnen der Liebesgöttin. Dass Amor die Mutter mit seiner Geste auf den im Hintergrund des Bildes liegenden Mann hinweist, klärt darüber auf, dass dort der tote Adonis liegt, der im Titel des Bildes ja genannt wird. Der in der ikonographischen Beschreibung erster Stufe erwähnte Palast im tieferen Bildhintergrund muss seiner architektonischen Typologie zufolge der Dogenpalast von Venedig sein. Der Turm links daneben ist der Campanile. Da die im Jahr 1514 aufgesetzte Spitze hier fehlt, muss die Entstehungszeit von Piombos Gemälde etwas vor diesem Datum liegen. Der literarische Ursprung des Motivs Venus und Adonis ist in Ovids Metamorphosen in den Versen 525-509.“ „Ui“, dachte der Maler, Durchblick hat sie“. Allerdings wartete er nach wie vor darauf, dass das Bild anfangen würde, sich mit ihm gewissermaßen sprachlich zu verständigen.
„Dass es sich bei dem so weit in den Hintergrund entfernten Adonis um den Geliebten der Venus handelt, scheint eine Unstimmigkeit in der Komposition des Malers zu sein. Der auf Adonis eifersüchtige Mars hatte sich in einen Eber verwandelt und ihn in dieser Verwandlung angegriffen. Die Jagd mit dem tödlichen Angriff kann noch nicht lange her sein. Intuitiv würde der Betrachter vermuten, dass Venus ihre Trauer in unmittelbarer Nähe des Mannes zum Ausdruck bringt. Dies geschieht jedoch nicht. Vielmehr liegt der Körper des Toten relativ weit von der Göttin entfernt, während sie nur mit ihrer Wunde beschäftigt zu sein scheint. Von Bedeutung ist daher eine Anzahl Blumen, die sich unter dem aus dem Fuß tropfenden Blut rot färben. Sie sind über den ganzen vorderen Bildgrund verstreut. Die Verwundung des Fußes dürfte sich die Göttin zugezogen haben, als sie in großer Eile durch den Wald dem Geliebten zu Hilfe eilen wollte: Sie wusste, dass Mars ihm aus Eifersucht nach dem Leben trachtete. Überdies hatte sie Adonis gewarnt. Die Komposition Piombos könnte darauf schließen lassen, dass Venus die Leiche des Geliebten in ihrer Beschäftigung mit der Verwundung vielleicht noch gar nicht wahrgenommen hat. Die Geste nach rückwärts, die Amor macht, könnte diese Hypothese bestätigen.
Die Adonisröschen unter der Venus machen auf mythologische Hintergründe aufmerksam, die in die Komposition Piombos eingehen. Sie bilden gängige Motive der Renaissancemalerei. Nun kommt Adonis´ Rolle als Hüter der Pflanzen ins Bild: Sein Tod symbolisiert das Verschwinden des Lebens und das Aufleben der Natur mit der Rückkehr der Vegetation im Frühjahr. Bei genauerer Betrachtung einzelner Gestalten fällt auf, dass die mit ausholender Geste nach rechts auf den Hirtengott zeigende ältere Frau die Gesichtszüge der Sibylle von Eritrea aufweist, die Michelangelo in der Deckenmalerei der Sixtinischen Kapelle für diese Gestalt konzipierte. Auch der Amor in Piombos Bild hat das Gesicht der Putte, die in Michelangelos Deckenfresco an der Seite des Propheten Daniel steht. Liegt hier eine Imitation vor? Das könnte sein, wenn man annimmt, dass Piombo sich außer Stande zeigt, diese Ähnlichkeiten in eine sinnvolle Dramatik seines Bildes zu integrieren. Die dritte und letzte Stufe der ikonographischen Erklärung, auf die wir uns nun zubewegen, muss Aufschluss darüber geben, was es mit diesen Nachbildungen auf sich hat.
Von Minute zu Minute verstärkte sich die Enge in der Galerie. Größere Touristenscharen drängten herein. Soweit der Maler beurteilen konnte, waren es Chinesen, die jetzt die Besucher vom Eingang her weiter zusammenschoben. Melisune und er wurden auf die Seite gedrückt. Piombos Bild geriet mehr und mehr außer Sicht. Eine zweite Saalwache drängte sich heran und erklärte, wir hätten unsere Zeit schon lange überschritten und rief: „Si mouva, signora, si muova“. Zu Deutsch: „Gehen Sie weiter“. Melinuse war jedoch von ihrer Sache überzeugt, sie ließ sich nicht verdrängen. Sie beachtete den Mann nicht weiter. Das meiste was sie jetzt noch sagte, ging allerdings in den kunsthistorischen Erklärungen einer venezianisch aussehenden chinesischen Touristenführerin unter, die den Lärm aller anderen zu überschreien versuchte.
„Wir wenden uns jetzt auf der dritten Stufe der Ikonographie der synthetischen Intuition der Interpretation zu“, erklärte Melinuse, die jetzt ebenfalls zu schreien anfing. „Panofsky erklärt sinngemäß: Wenn wir die Grundprinzipien der Bildgestaltung erfassen wollen, brauchen wir eine Fähigkeit, die der eines Diagnostikers vergleichbar ist. Das ist die synthetische Intuition. Mit dieser Betrachtung gilt es, die tiefere Bedeutung eines Gemäldes so zu begreifen, dass die Blockade durch den hermeneutischen Zirkel, so gut es geht, überwunden wird. Das mythologische Personal, die Venus und der Amor im Zentrum, der tote Adonis im Hintergrund, der Hirtengott Pan und die Sibylle von Eritrea nach Michelangelo sowie die beiden Nymphen lassen auf eine Bedeutung schließen, die gerade dieses Personal für die Gestaltung Piombos besessen haben muss.
Mit dem wegverlagerten Adonis, seiner detachierten Position im Hintergrund und der auf ihre Verwundung konzentrierten Venus scheint Piombo auf ein klares Trauermotiv zu verzichten und auch auf die Trennungsdramatik, wie sie Tizian in der stürzenden Venus in seinem Bild zu dem Thema andeutet. Dem Verhalten der Venus bei Piombo könnte man eine Gleichgültigkeit unterstellen, die für die Deutung der Szene jedoch offenbar nicht ausreicht.
Die Konzentration der Göttin auf ihre Verwundung am Fuß hat leicht meditative Züge. Man muss nur genau hinsehen! Man könnte meinen, sie lenkt die Tropfen bewusst so, dass sie den Boden wirklich erreichen. Die sich verfärbenden Blumen lassen darauf schließen, dass es dem Maler um etwas Anderes als geht als die Trauer, nämlich um die kosmische Deutung der Szene. Mit seiner Komposition scheint Piombo darauf hinzuweisen, dass mit den Röschen im Vordergrund der physische Tod des Adonis aufgegeben wird. Mit der in nächster Nähe zum Betrachter blühenden Vegetation ist Adonis symbolisch wieder da. Der Vordergrund und der Hintergrund des Bildes stehen in einer verdeckten Balance. Die Trauer um den Toten wird unbedeutend“.
Weiteren Umkreis des Museums ging in diesem Augenblick ein Krach los, der an die Explosion von Bomben erinnerte. Der Stimmenlärm verstummte. Ein Wächter beruhigte den Saal und rief in akzentfreiem Englisch: das sei ein notorisch aggressiver Ferrarifahrer, der hier immer wieder vorbeikäme, ein Autonarr, der schon mehrfach verwarnt worden sei, weil er es nicht lassen könne, seinen Motor in der Nähe des Museums aufheulen zu lassen. Also „niente panico!“ schloss der Mann und Melinuse erhob wieder ihre Stimme. Was der Maler jetzt noch verstand, musste er von der Bewegung ihrer Lippen ablesen.
„Das zunächst nur schwer erklärliche Zusammentreffen des Hirtengottes und der eritreischen Sibylle von Michelangelo lässt sich ebenfalls weiter entschlüsseln, wenn man sich die Rolle des Pan in der Mythologie vor Augen führt. Pan gehört zum Bestand der poetischen Ikonographie des 16. Jahrhunderts. Als Rauschgott wird er jedoch von Piombo kaum als bloßes Beiwerk in das Bild zitiert. Sein Hineindrängen kann als Erinnerung an einen ausschweifenden Eros gedacht werden, der verdrängt wurde, und der in Konkurrenz zu den zivilisierten Lebensverhältnissen steht, wie sie die Stadt Venedig im Hintergrund des Bildes repräsentiert.
In dieser Verwandtschaft kann man sich auch den Amor denken, der in Piombos Bild nicht Pfeil und Bogen hat, also von den engeren Kategorien befreit ist. Pan ist der Gott, der durch eine mythische Naturlandschaft schweift, frei von zivilisatorischen Zwängen. Den Nymphen spielt er zum Tanz auf und gern macht er sich an sie heran. Im Bild Piombos ist das nur angedeutet, ich möchte aber darauf bestehen, dass es vorhanden ist. Wozu wäre sonst eine Bildbeschreibung gut? Pan erinnert mit seiner Lebensform auch an ein Verhältnis zwischen Venus und Adonis, dessen Freiheit mit dem Tod des Mannes aufhört zu existieren. Im Hintergrund zieht der Kriegsgott auf.
Pan lässt sich weiter als Vertreter eines mythischen Traumlands verstehen, das in der Dichtung als utopischer Naturzustand eines von Zwängen befreiten Eros beschrieben wird. Die Trivialbezeichnung für diese Utopie ist Arkadien. Der Hintergrund des Bildes mit der Silhouette Venedigs müsste also mehr sein als ein nostalgisches Zitat, das den später nach Rom übersiedelten Piombo an seine Heimatstadt erinnert. Vielmehr lässt sich die Silhouette der Stadt im Sinne unserer synthetischen Intuition so deuten, dass der Maler sie sich als Element einer utopischen Landschaft vorstellt, eines Arkadien, wo sich Venus, ihre Nymphen, Adonis und Pan in einem andern Eros begegnen. Wie dieser aussah, müsste sich zeigen.“ Das kann ja heiter werden, dachte der Maler. Schon länger hatte er sich gewundert, dass Melinuse sich seit einiger Zeit so anders verhielt als sonst.
„Nun zu der Zeigegeste der Sibylle und besonders ihrer ausladenden Größe: Sie lässt sich auf der dritten Stufe unserer Interpretation mit einer Konstruktion verbinden, die der Kunsthistoriker Max Rafael in den zwanziger Jahren entwickelte. In seiner Interpretation des Tizian-Bildes „Venus und Adonis“ unterscheidet er zwischen einer kosmischen Gefäß-Zeit und einer figuralen Geschehnis-Zeit. Wie ich betonen möchte, ist das alles jetzt durchaus nicht akademisch. Die Sybillen waren in der antiken Kultur weise Frauen, denen die Deutung der Zukunft oblag. Sie hatten eine Art Priesterfunktion. Die große Geste der Sibylle ist daher zu wichtig, als dass sie nur auf den an den Bildrand gequetschten Pan deuten sollte.
Es handelt sich also um ein Zeigen aus der figuralen Geschehnis-Zeit des Bildes hinaus auf die kosmische Gefäß-Zeit, die ein umfassendes Interpretationskonzept mit der Stellung des Bildes in einer größeren Anzahl von Dimensionen, zu denen die Zukunft gehört, mitbringt.
Mit dem Zeigen in die kosmische Gefäß-Zeit erreichen wir die Dimension, die sich im Zentrum des Bildes mit dem Blut der Venus und den Röschen im Aufstieg einer neuen Vegetation als kosmische Wiederkehr ausweist. Auf diese Weise schließt sich auf der dritten Stufe der Kreis der Interpretation. Der Gehalt und die gesamte kompositorische Anordnung sowie die mythologischen Funktionen der Figuren in Piombos Bild geben ein komplexes Geflecht an Bedeutungen wieder, das mythologische, philosophische und kulturhistorische Dimensionen hat. Aber Achtung! Wir sind mit unserer Interpretation noch nicht besonders weit. Genau genommen fangen wir gerade erst…“
In diesem Augenblick brach erneut die Hölle los. Es krachte in ziemlich großer Nähe draußen dumpf und trocken, aber lauter als beim ersten Mal. Die Scheiben des Hauses fingen an zu knistern, einige gingen zu Bruch, Scherben fielen auf das Parkett. Im Saal brach eine Panik aus, die Massen drängten zum Ausgang, der viel zu klein war, um alle auf einmal durchzulassen. Das Bild Piombos, auf das der Maler zuletzt unablässig gestarrt hatte, in der Hoffnung, es würde im letzten Augenblick noch anfangen zu „sprechen“, begann an zu schwanken. Es schwankte erst nach links und dann nach rechts. Weitere kostbare Gemälde schienen sich von der Wand zu lösen und auf den Boden zu krachen, was sich später als ein halluzinatorischer Irrtum des Malers herausstellte. Die Saalwachen, die hereindrängten, versuchten das Publikum zu beruhigen: „Niente panico, controllo, controllo!“
Sie hatten wenig Erfolg. Im Saal ging ein Geschrei ging los wie kurz vor einem Flugzeugabsturz. Auf dem Flur vor dem Raum 28 herrschte Gewühl. Zum Glück wurde niemand verletzt, soweit der Maler das bisher beurteilen konnte. Er hatte kein Interesse, die Hypothesen zu lesen oder auch nur zu hören, die am nächsten Tag in den Zeitungen stehen würden. Jemand hatte eine Autobombe gezündet. Die Hintergründe würden in Anbetracht der italienischen Situation so ungeklärt bleiben wie immer. Man hörte den Politclown kichern, der auf den in der Stadt ausgehängten Plakaten überall sein windiges Grinsen verbreitete. Jetzt und auch später sah sich der Maler an den sonst von ihm so bewunderten Italienern in Zweifel gestürzt.
Etliche Jahre nach dieser Fahrt nach Italien, als er auf der Straße an einer Ausstellungsankündigung vorbeikam und schon weiter gehen wollte, achtlos, wie er geworden war, blieb er wie angewurzelt stehen. Etwas war eben passiert. Da hinten. Das Bild! Es war das Bild von Piombo! Der tote Adonis hinten am Boden, in der Mitte die Venus mit ihrem blutenden Fuß, die Nymphen und rechts außen der Pan. Da waren sie. Auf dieser chaotischen Straße, auf der PKWs, Gigaliner, Busse und Motorräder das Leben der Stadt in vier Spuren zerlegten, war etwas Ungewohntes zu sehen und zu hören. Vor allem zu hören. Es war keine menschliche Stimme, aber doch „sprach“ etwas, leise und unüberhörbar. Es war ein unmerkliches gravitationales Echo, dessen Wellen sich in den Ohren des Malers verdichteten, sich auf seine Physis übertrugen, und dort weitere Wellen erzeugten, als ob in ihm etwas schwankte. Das Fluidum ging in eine Intonation über, schwoll an und wieder ab, ähnlich dem Geräusch von Flügeln, die sich am Himmel entfernen. Es war eine Art Sprechen ohne Geräusch, ein geräuschloses Rauschen.
Die Strahlung kam aus allen Teilen des Bildes, das keine besonders gute Reproduktion war. Es war keine „Geschichte“ oder etwas Kunsttheoretisches. Das „Sprechen“ des Bildes hatte auch kaum etwas mit dem lange zurückliegenden Vortrag der Muse in zu tun. Aber es war da. Der Maler rätselte, wie das jetzt noch hatte passieren können. Vielleicht irrte er sich. Mit seinem Alter fühlte er sich stärker seltsamen Sinnestäuschungen ausgesetzt, obgleich er sich weigerte, sich als vergreist zu betrachten. Er beschloss, am nächsten Tag, gleich wieder den Schaukasten mit dem Posting aufzusuchen, wo er das Bild gesehen hatte. Selbstverständlich würde er in die Ausstellung gehen, obgleich sie, wenn er richtig gesehen hatte, mit einer technokratischen Verkrustung bestückt war, die ihn abschreckte. Als er am nächsten Morgen wieder an die Stelle kam, war das Bild nicht mehr da. Der Maler glotzte. Er blieb stehen und wartete, bis sich die Slideshow in dem Kasten zum zehnten Mal wiederholt hatte. Nichts. Das Bild war weg. Der Maler überlegte, einen der Vorbeikommenden zu fragen, ob er das Bild gestern Abend nicht auch gesehen hätte. Die Passanten gingen aber alle achtlos vorbei. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass das gestern anders gewesen sein sollte. Er eilte nachhause und sah im Internet nach. Auch dort gab es keine Resultate. Hat er sich getäuscht? Wurde er bekloppt?
Er überlegte aber, ob er Melinuse nach dieser langen Zeit noch einmal besuchen sollte, um ihr zu sagen, dass ihr Bild mit dem Tod des Adonis, wie es in den Uffizien hing, auf mysteriöse Weise angefangen hatte zu sprechen, wie sie es vorausgesagt hatte. Schon bei ihrem letzten Treffen hatte sie aber die meiste Zeit nur vor sich hin gesehen, wenn er ihr mit Worten näher kommen wollte, als suche sie in ihrer Erinnerung mit größter Hartnäckigkeit die Stelle, wo zum letzten Mal ein fassbarer Gedanke aufgetaucht war. Daran hatte sich seit dem letzten Mal wenig geändert. Die Ärzte hatten ihm gesagt, es werde alles schwieriger, dass sie tiefer in ihre Abwesenheit gerate. Was könnte ihr die Nachricht mit dem Schimmer Arkadiens bedeutet haben, begraben unter einem Wust von Fakten und Erinnerungen, in dem sie jetzt lebte? Selbst wenn sie etwas verstünde? In der Dimensionslosigkeit, in der er selber lebte, gab es auch für ihn kaum etwas, das eine solche Utopie erträglich machte. Und wenn, hätte man sie Stück für Stück exhumieren müssen. Zuletzt wäre alles vielleicht nur warme Luft gewesen, wie sie ihm in den zu erwartenden langen Regenzeiten immer häufiger ins Gesicht blasen würde.
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